Lilli Cremer-Altgeld |
Plötzlich war sie da. Alle sprachen von ihr. Vor allem
Frauen. Alle konnten sie sehen und beschreiben. Nur für mich war sie
unsichtbar. Ich fühlte mich hilflos. Dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben.
Die GLÄSERNE DECKE!
Die GLÄSERNE DECKE!
Ich war Coach geworden. Und coachte Männer. Manager.
Das war nicht neu für mich. Zuvor leitete ich ein Institut für Markt- und
Kommunikationsforschung, das ich selbst gegründet hatte. Meine Gesprächspartner
kamen aus der oberen Führungsriege in Politik und Wirtschaft. Meine
Auftraggeber und Gesprächspartner waren Männer. Frauen habe ich erst
kennengelernt als ich Mitglied der Wirtschaftsjunioren wurde. Es waren nur
wenige. Von ihnen lernte ich neue Denk- und Handlungsweisen. In die gläserne
Decke wurde ich noch nicht eingeweiht.
Das kam später. Als ich Coach wurde und anfing, Frauen
nicht verstehen zu können. Dabei hatte ich mich gerade mit den Themen der
Frauenbewegung – wissenschaftlich – und gewissenhaft auseingesetzt. Ich
spürte, dass es da ein Defizit bei mir gab. Eine der Führungsfrauen nahm mich
zur Seite und erklärte mir den Unterschied: Männer sind lösungsorientiert.
Frauen sind prozessorientiert. (Gut, das ist schon ein paar Jahre her – heute sehen
das – manche/einige/viele? – Frauen anders.)
Schlagartig wurde mir klar: Ich muss ein Mann
sein. Trotz Lippenstift und high heels. Wie soll ich das meinem Freund
erklären?
Es ist sogar noch schlimmer gewesen: Ich fand
lösungsorientiert richtig. Ich konnte mit prozessorientiert wenig anfangen. In
der Forschung hatte ich die Aufgabe, Lösungen zu finden. Ich muss gestehen: Es
machte mir Spass, Lösungen zu finden. Schnell zu finden. Nicht überstürzt. Aber
schnell. Vor die Wahl gestellt, ob ich lieber mit Rollschuhen fahre, mit dem
Fahrrad, mit einem Motorrad oder einem Vierräder – welchem? – hätte ich mich
immer für einen Vierräder entschieden. Gerne den aus Zuffenhausen. Genau
genommen: beruflich das Auto – privat gerne das Fahrrad und die Rollschuhe.
Ich komme aus einem Geschäftshaushalt. Gewiss, wir
haben unsere Familienkultur. Aber das Geschäft – die Geschäfte – standen immer
an erster Stelle. Probleme waren da. Probleme mussten gelöst werden. Wenn sie
schnell gelöst wurden – war mehr Zeit da für das Private. Für all die privaten
Prozesse, die auf uns warteten. Effizientes Denken. Was war falsch daran?
Es ist auch nicht so, dass mir Prozesse fremd sind.
Ich habe sie nur anders erlebt.
Es fing mit meinem Grossvater an. Als er starb –
ich war 10 Jahre – habe ich so gelitten, dass ich krank wurde und der Arzt
sagte: „Für ein Jahr die Schule verlassen!“. Ich lebte bei Freunden auf dem
Land. Frei und in Prozessen. Ich durfte nicht zur Schule gehen, weil ich so in
meiner Trauer gefangen war, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Ich
wusste nicht genau, was mit mir geschah und überlies mich meinem Forschergeist:
Ich entdeckte die Natur dort am Rand eines Waldes mit einem kleinen Fluss und
den kleinen Weihern vor der Haustür. Ich war im Grunde genommen allein. Die
wenigen Kinder im Dorf (Jungen), waren in der Schule. Wenn wir miteinander
Fussball spielten, stand ich im Tor.
Zumeist war ich allein. Aber nicht einsam. Ich brachte
mir selbst das Schwimmen bei, durchstreifte die Wälder und entdeckte
Wildschweine, die so gar nicht wild waren. Ich beobachtete wie Kaulquappen sich
zu Fröschen entwickelten. Und ich lernte, dass Frösche keine Haustiere sind.
Ich hatte Freiheit – und ich ging weiter auf Entdeckungsreisen, beobachtete die
Ringelnatter und Blindschleichen. Ich brachte mir bei, Forellen mit der Hand
aus dem kleinen Fluss zu fangen. Dann ging ich in die Küche, reinigte den
Fisch, entnahm die Innereien und briet ihn in Butter. Köstlich.
Irgendwann hatte ich genug gesehen und erlebt und
erklärte mich selbst für gesund. So ging ich wieder in die Schule.
Ich erlebte, dass ich anders war. Und erklärte das mit
der tiefen Trauer. Und dem Jahr auf dem Land mit den Wildschweinen, Fröschen
und Forellen.
Aber vielleicht fing ja alles noch viel früher an.
Damals, als ich 8 Jahre war, einen Puppenwagen mit Puppe geschenkt bekam. Ich
wollte schon immer gründlich den Sinn erkennen. Oder den Sinn hinter den
Dingen. Und so gab ich mir sehr viel Mühe, herauszufinden, warum kleine Mädchen
mit Puppen und Puppenwagen spielen. Zuerst fragte ich meine Eltern und
Grosseltern. Dann die anderen kleinen Mädchen. Dann noch die Menschen, die ich
für besonders klug hielt. Eine Lehrerin war auch dabei. Ihre Argumente konnten
mich nicht überzeugen. Und so überlegte ich: Wer findet Puppenwagen spannend
und möchte mit mir tauschen? Nicht einmal mein kleiner Bruder fand den
Puppenwagen anregend. Aber ich machte mit ihm einen Deal: Ich helfe dir bei den
Hausaufgaben – dafür darf ich dann mit deinem Fussball spielen und auch mit
deinem Fahrrad fahren.
Ich fragte mich, warum Eltern den Jungs so kluge
Geschenke machen – und den Mädels so was Ödes wie Puppen geben. Obwohl: Einige
meiner Freundinnen fanden Puppen total süss. Schliesslich hatte der Puppenwagen
doch noch etwas Gutes: Ich schenkte ihn dem Kinderheim. Die Mädels freuten
sich. Ich mich mit ihnen.
Ich lernte, was andere Mädchen mögen – muss mir nicht
gefallen. Und ich lernte, was andere Mädchen und ich mögen, darf ich
nicht haben: Mickey Mouse. Ich liebte diese Hefte. Durfte sie aber nicht lesen.
Auch hier habe ich den Sinn meiner Eltern nicht erkennen können – und so suchte
ich nach Alternativen. Es gab zwei sehr dicke Bücher, die nun für mich richtige
spannend wurden – zuerst – mit 8 Jahren: das Jugendschutzgesetz. Damit konnte
ich etwas anfangen.
Meinen Eltern erzählte ich lieber nichts davon – aber
sie hätten es erlaubt, wie mir später klar wurde. Und so reifte in mir der
Gedanke, Juristin zu werden. Dass man auch Politologin werden kann, lernte ich
erst später und entschied mich dann dafür. Das zweite dicke Buch (11 Jahre) enthielt
bekannte Schriften und Interpretationen der Weltliteratur: Goethe, Schiller,
Tolstoi, Cervantes, Dante … Auch deshalb machte ich später die zwei Jahre
Volontariat zur Film- und Fernseh-Journalistin, an der Bonner Uni sowie im
CampusRadio eine Ausbildung zur Radio-Moderatorin und studierte
Medienwissenschaft.
Meine Freundinnen fanden beide Bücher nicht so lustig
und fingen an, mich bizarr zu finden. Erst Jahre später erkannte ich den Grund
meiner Verhaltensweisen: Unser Schulpsychologe machte mit mir einen Test – und
erzählte mir etwas von einem hohen IQ. Er hielt mich an, mit niemandem darüber
zu reden, denn die anderen Menschen mögen nicht immer einen „hohen IQ“. Ich war
enttäuscht, weil ich etwas hatte, was die anderen nicht mögen. Ich dachte und fühlte:
Wenn ich schon nicht darüber reden darf, muss es etwas Schlimmes sein. Über
Gutes darf man immer reden – über Schlimmes muss man schweigen. Also hatte ich
etwas „Schlimmes“ – so etwas wie eine Krankheit. Ich habe es geheim gehalten
und erst vor ein paar Jahren meiner Familie erzählt. Die auch eher sonderbar
darauf reagierte. Nur mein Mathelehrer hat sich damals echt gefreut.
Wir halten fest: Ich mag Fahrräder lieber als Puppen,
finde Wildschweine anregend (Wettläufe im Wald) lese juristische Fachliteratur
statt Mickey Mouse – sind das die Ursachen warum ich keine gläserne Decke sehen
kann?
© Lilli Cremer-Altgeld, 2016